Wenn Gebäude sprechen könnten
Ein Audioguide für die Zeit 1938-1945 am Neubau

Mithilfe des Faltplans kann der Audioguide pro Station gefunden werden.

Wir gehen durch den 7. Bezirk mit einem Faltplan spazieren. Aber es ist kein gewöhnlicher Plan, den wir da in den Händen halten. Denn der Plan enthüllt uns die vergessenen Orte des NS-Terrors und führt uns zu Gebäuden, die wir sonst womöglich nie beachtet hätten. Die QR-Codes am Faltplan führen uns zum Audioguide „Wien 1938-1945 im Bezirk Neubau“ und wir lauschen, während wir die Umgebung mit anderen Augen betrachten. Wenn diese Gebäude sprechen könnten, würden sie uns Geschichten über die Leute von damals erzählen. Leute, die einst hier gelebt haben und entlangspaziert sind, wo wir nun gehen.

37 Orte im Bezirk Neubau im Audioguide

Der Audioguide „Wien 1938-1945 im Bezirk Neubau“ erzählt uns Geschichten über 37 Orte am Neubau, die in den Jahren 1938 bis 1945 bedeutsam waren. „An Vergessenes soll erinnert werden, Verstecktes so wieder zum Vorschein kommen“, so Thomas Kreuz, Unternehmer in der Westbahnstraße, der dieses Projekt konzipiert und umgesetzt hat.  

Spazieren und lauschen

Initiator des Projekts Thomas Kreuz präsentiert den Faltplan zum Audioguide mit den QR-Codes. Foto: Martina Simon
Initiator des Projekts Thomas Kreuz präsentiert den Faltplan zum Audioguide mit den QR-Codes. Foto: Martina Simon

Neubau ist ein idyllischer und malerischer Bezirk, doch zu Zeiten des NS-Terrors war dies ganz anders. Am Faltplan des 7. Bezirks sind die Orte, die uns an diese Zeit erinnern, eingezeichnet und einzeln mit einem QR-Code versehen. Wer mehr über eine Adresse erfahren möchte, scannt den Code und lauscht der Stimme im Audioguide. Sowohl der Plan als auch der Audioguide wurden in deutscher und englischer Sprache kreiert.

Thomas Kreuz und Autorin Evelyn Steinthaler, von der die Texte des Audioguides stammen, deckten diese Geschichten auf. Wir erfahren, wie sich das Leben 1938 nach dem „Anschluss“ Österreichs an Nazideutschland radikal veränderte.

Während wir also durch den Bezirk spazieren, eröffnen sich uns auch andere, dunklere Seiten der Vergangenheit dieser Straßen, Häuser und Plätze, als die, die wir für gewöhnlich kennen. So bauen wir Schritt für Schritt eine Verbindung zwischen Geschehenem und dem jetzigen Leben im Bezirk auf.

Dunkle Geschichte

Wo befanden sich die Propaganda-Zentralen der NS-Zeit, wo organisierten sich Widerstandsgruppen, wo war das Lager für Zwangsarbeiter:innen und wo das Wehrmachstuntersuchungsgefängnis des siebten Bezirks untergebracht? Welche Filmstudios, Zeitungsredaktionen und Radios existierten damals im 7. Bezirk?

Welche Familien, Männer, Frauen, Künstler:innen, Autor:innen und Musiker:innen lebten einst hier und wurden zu Zeugen und Opfern des NS-Regimes?

Die Pläne zum Audioguide „Wien 1938-1945 im Bezirk Neubau“ sind gratis für alle und liegen im Amtshaus, in Cafés, Hotels und Bibliotheken auf. Foto: Martina Simon

Unter den vier Rubriken Politik, Ökonomie, Kultur und Soziales wird die Geschichte beleuchtet und wir erfahren auch, wie das Leben nach der Befreiung Wiens durch die Rote Armee weiter ging. Wien wurde nach der Befreiung, die offiziell am 13. April 1945 um 14 Uhr für beendet erklärt wurde, in vier Besatzungszonen der Alliierten unterteilt. Der 7. Bezirk war den Amerikanern unterstellt. Danach konnte auch am Neubau das Ende des Zweiten Weltkrieges gefeiert werden.

Hinweise fehlen oft

Hausnummernschilder sehen im heutigen, modernen Wien anders aus als damals. Das alte Hausnummernschild der Burggasse 35 hingegen, der einstige Sitz des INHA Zwangsarbeiter:innenlagers, hing wahrscheinlich auch schon zu der Zeit hier, als Menschen unter den unwürdigsten Bedingungen in diesem Haus untergebracht und zur Arbeit gezwungen wurden. Doch meist finden wir selten Hinweise zu den damaligen Geschehnissen.

„Gedenktafeln und Stelen finden sich zwar hin und wieder im Bezirk. Oft stehen wir aber vor Gebäuden, die weder die Geschichten noch die Menschen von damals preisgeben wollen. Wir haben sie dennoch aufgespürt“, so die Autorin Evelyn Steinthaler.

Mit dem Faltplan in der Hand können die einzelnen Stationen des Audioguides angehört werden.
Mit dem Faltplan in Händen spazieren wir durch den Bezirk und tauchen in die Geschichten des Grätzls ab. Foto: Martina Simon

Von der Idee zum Audioguide

Thomas Kreuz initiierte bereits im Jahr 2017 ein anderes Projekt, die „Steine der Erinnerung in der Westbahnstraße“. Vor 14 Häusern erfährt man von 42 Menschen, die während des NS-Terrors deportiert wurden. „Wir wollen vergessene Opfer der NS-Zeit aus der Anonymität holen und ihrer gedenken. Nur Namen und Sterbedatum zu lesen, das bedrückt einen und macht nachdenklich.“, so Thomas Kreuz. In unserem Beitrag „Steine der Erinnerung – Denkmäler am Wegrand der Westbahnstraße“ findet ihr mehr Informationen zu diesem Projekt.

So entstand die Idee, mehr über diese Menschen erfahren zu wollen und diese oft traurigen Geschichten über den Audioguide „Wien 1938-1945 im Bezirk Neubau“ zu veröffentlichen. Innerhalb von zwei Jahren war das Projekt abgeschlossen. Die Texte wurden im Tonstudio Audiamo+ im 7. Bezirk aufgenommen. Hier haben wir Audiamo+ schon einmal kurz vorgestellt.

Am 17.02.2022 war es dann so weit und der Plan wurde im Bezirksmuseum präsentiert. Der Musiker Alexander Shevchenko trug bei der Eröffnung jüdische Lieder vor.

Mehr als 9000 Pläne wurden in der Bezirkszeitung und weitere 5000 Stück in Bibliotheken, Hotels, Cafés, Amsthäusern und sogar im freien Bücherschrank in der Zieglergasse verteilt. Die Pläne sind für jeden gratis zum Mitnehmen. „Es ist uns ein tiefes Anliegen, die Geschichten allen zugänglich zu machen“, so der Initiator.

Weitere Geschichten im Audioguide folgen

Mittlerweile wurde der Audioguide von ursprünglich 25 auf 37 Orte im 7. Bezirk ausgeweitet und wird weiter ergänzt. Die druckfrischen Pläne liegen seit Anfang April ebenfalls in Bibliotheken, Hotels, Cafés und Amtshäusern zum Abholen bereit.

Doch es sind noch weitere Vorhaben in Arbeit. „Der Plan soll nun auch an Schulen gebracht werden und als Schulprojekt genutzt werden können. Es ist wichtig, dass junge Menschen einen realen Bezug zur Geschichte aufbauen können“, so Thomas Kreuz über sein nächstes Projekt. Dazu werden eigens Routen für die Schüler:innen konzipiert, auf denen sie den Audioguide hören können. Danach gibt es eine Broschüre mit Multiple-Choice Fragen.

Thomas Kreuz möchte Geschichten dieser Zeit auch aus anderen Bezirken erzählen. Dabei freut er sich über jede Hilfe, die bequem auf der Plattform Patreon geleistet werden kann.

Der Plan führt uns zu allen Orten, die uns ihre Geschichte erzählen möchten. Foto: Martina Simon

Ein Exkurs zu den Zeichen der Zeit – Kunst im öffentlichen Raum in Wien von 1934 bis 1945

Zeitgleich zum Audioguide „Wien 1938 -1945 im Bezirk Neubau“ erschien ein weiterer Audioguide von Thomas Kreuz und Evelyn Steinthaler, die „Zeichen der Zeit, Ein Audioguide zum Thema Kunst im öffentlichen Raum in Wien in der Zeit von 1934-45“. Der Audioguide führt uns zu Hausschmückungen der Vergangenheit, die die Ideologien des Austrofaschismus und des Nationalsozialsimus dieser Zeit verdeutlichen, die wir teilweise nicht mehr eindeutig lesen können. Der Plan zeigt uns die Bilder- und Formensprache dieser Zeit und hilft uns, die 39 künstlerischen Werke besser zu verstehen. Im 7. Bezirk finden wir das Terrakotta-Relief von Siegfried und dem Drachen und das Relief „Bauen Vertrauen“.

Über das Projekt „Wien 1938-1945 im Bezirk Neubau“

Konzept und Idee: Thomas Kreuz

Texte: Evelyn Steinthaler

Dort findet ihr die Pläne: In Bibliotheken, Hotels, Cafés, Amsthäusern im 7. Bezirk und sogar im freien Bücherschrank in der Zieglergasse verteilt. Die Pläne sind für jeden gratis zum Mitnehmen.

Online-Adressen

wien1938-45.at – Hier findet ihr die Audioguides zum Hören auf deutsch und englisch.

www.patreon.com/reumannplatz – Hier könnt ihr das Projekt auf Patreon unterstützen, damit weitere Orte und Bezirke aufgearbeitet werden können.

Wien 1938-1945 im Bezirk Neubau – Geschichten zum Nachhören

Als Vorschau auf die Geschichten haben wir hier die Stationen für euch aufgelistet. Ihr könnt sie unter wien1938-45.at hören. Die folgenden Texte stammen vom Plan „Wien 1938-45 im Bezirk Neubau“:

1 – Straßenbahnstation 46er – Altlerchenfelder Kirche/Ceija Stojka-Platz.
Wiens öffentliche Verkehrsmittel im Krieg und nach der Befreiung. Erinnerung an die Künsterlin und Autorin Ceija Stojka.

2 – Radio Rot-Weiß-Rot – Seidengasse 13.
Die Geburtsstunde der Radio Unterhaltung unter den Augen der amerikanischen Alliierten. Radio im Kalten Krieg.

3 – Wehrmachts-Untersuchungsgefängnis Zweigstelle Neubau – Hermanngasse 38, Ecke Burggasse 69.
Das Gefängnis mitten im Bezirk für jene, die sich gegen die Regeln der Wehrmacht zu widersetzen versuchten.

4 – Widerstandsgruppe Altlerchenfelder Pfarre – Mentergasse 13.
Organisatorische Hilfe für Verfolgte, Solidarisches Handeln ohne Wenn und Aber.

5 – Die Widerstandsgruppe Altlerchenfeld und ihre Beteiligung an der Befreiung Wiens – Lerchenfelderstraße 111-113.
Sie tricksten SS und Wehrmacht aus und unterstützten die Rote Armee bei der Befreiung Wiens.

6 – Volkstheater – Arthur-Schnitzler-Platz 1.
Stars eines der bedeutenden deutschsprachigen Theater wurden verfolgt, während das Haus zum „Kraft durch Freude“-Theater avancierte.

7 – Flak Turm, Stiftskaserne „General Spannocchi“ – Stiftgasse 2-2a.
Von Albert Speers Ministerium gegen die alliierten Fliegerverbände unter dem Einsatz von Zwangsarbeiter:innen errichtet.

8 – Stiftskaserne – Sitz des Alliierten Fuhrparks – Stiftgasse 2-2a.
Das Symbol der Nachkriegszeit und sein fahrbarer Untersatz.

9 – Völkischer Beobachter – Wien Ausgabe, Seidengasse 3-11.
NS-Propaganda und Hetze mit Wiener Handschrift von den Tagen des „Anschlusses“ im März 1938 bis zur Befreiung im April 1945.

10 – Wiener Kurier – Seidengasse 3-11 (bzw. Lindengasse 52).
Die ersten bedeutenden Schritte der österreichischen Zeitungslandschaft im Nachkriegswien mit Hilfe der Alliierten.

11 – Straße der Julikämpfer – Siebensterngasse Ecke Stiftsgasse.
Die Nazis versuchten mit Staßenumbenennungen der Stadt ein neues Gesicht zu geben. Ein Beispiel.

12 – Arbeitsamt für „Judenvermittlung“ – Hermanngasse 8.
Wiener Juden und Jüdinnen mussten Zwangsarbeit leisten, hier wurden sie an Wiener Betriebe „vermittelt“.

13 – Bezirksvorsteher Emil Maurer – Amtshaus, Hermanngasse 24-26.
Der jüdische Bezirksvorsteher Neubaus, ein Dorn im Auge der Nationalsozialisten und einer jeder Österreicher, die am 01. April 1938 deportiert wurden.

14 – ÖGB Gründung – Kenyongasse 3.
In den letzten Kriegswirren ein Neuanfang. Der Gewerkschaftsbund vereinte die politischen antifaschistischen gewerkschaftlichen Kräfte am Neubau.

15 – Notarrest – Kenyongasse 4.
Als 1938 aus Schulen Gefängnisse wurden, wo verhaftete Juden und Jüdinnen gepeinigt und ermordet wurden. Auch hier am Neubau gab es einen derartigen Notarrest, die berüchtigte Kenyongasse.

16 – Propagandaausstellungen im Messepalast – Museumsplatz 1.
Der Messepalast als Ort der ausgeklügelten Verhetzung und NS-Propaganda während des zweiten Weltkriegs.

17 – Georg Kreisler – Neustiftgasse 119.
Der Autor, Komponist und Sänger, der in die USA emigrierte. Nach dem Krieg verschonte er die Österreicher:innen mit seiner bissigen Kritik nicht.

18 – Familie Meisel – Westbahnstraße 8, Tür 2.
Die Spuren der jüdischen Familie Meisel, die bis zu ihrer Deportation 1941 hier am Neubau, in der Westbahnstraße gelebt hat.

19 – Ankunft Hitlers in Wien – Mariahilfer Straße 128 Ecke Neubaugürtel.
Über die Tage des „Anschlusses“ im Bezirk. Über die Ankunft Hitlers in Wien und den jubilierenden Empfang, der dem Diktator auf der Mariahilfer Straße gemacht wurde.

20 – Arisierungen im Bezirk. Das Kaufhaus Gerngross – Mariahilfer Straße 42-48.
Nach dem „Anschluss“ wurde jüdisches Eigentum in Österreich „arisiert“, darunter auch das Kaufhaus Gerngroß.

21 – Rudolf Schwarz – Siebensterngasse 29 Ecke Kirchengasse.
Ein Dirigent von Weltformat.

22 – Neubau, der Filmbezirk – Siebensterngasse 31.
Neubau war stets ein Hort der Kreativität. Die österreichische Filmbranche war in ihrer Hochblüte hier beheimatet, bis die Nationalsozialisten kamen.

23 – Mimi Grossberg – Schottenfeldgasse 53.
Die vielfältig begabte Neubauer Künstlerin, die als Autorin, Modistin und Sängerin erfolgreich war, gelang 1938 die Flucht.

24 – Bethaus und Hebräische Sprachschule – Schottenfeldgasse 60.
Für das blühende jüdische Leben am Neubau waren das Bethaus und die hebräische Schule wichtige Orte, die im Novemberpogrom 1938 zerstört wurden.

25 – INHA-Zwangsarbeiterlager – Burggasse 35.
In Wien gab es während des Zweiten Weltkrieges eine ganze Reihe an Zwangsarbeiterlagern. Am Neubau waren gleich mehrere eingerichtet.

26 – Admiralkino – Burggasse 119.
Eines der beliebtesten Kinos zwischen „Arisierung“ und Restitution.

27 – Rotarmisten – Lerchenfelder Gürtel auf Höhe Hausnummer 2.
Grab der Roten Armee als Spur der Befreiung Wiens.

28 – Gymnasium – Kandlgasse 39.
Antisemitische Übergriffe und Ausgrenzungen und der sogenannte „Anschluss“ in den Wiener Schulen.

29 – Seidenmanufaktur Steiner, Eugenie „Jenny“ Steiner – Westbahnstraße 21.
Förderin des Werks von Gustav Klimt.

30 – NS-Polizeispital im Sophienspital – Apollogasse 19, Kaiserstraße 9.
Ein geschichtsträchtiges Wiener Spital in den Händen des NS-Polizeiapparates.

31 – Karl Farkas – Neustiftgasse 67-69.
1938 gelang Farkas die Flucht. Er gehörte zu den prägendsten österreichischen Kabarettstars in der Zwischenkriegszeit und in der Zweiten Republik.

32 – Zwangsarbeitslager – Neubaugasse 64-66.
Eines der zahlreichen Zwangsarbeitslager in Wien, mitten auf der belebten Neubaugasse.

33 – Renaissancetheater – Neubaugasse 36.
Ein vielfältiges Theater, das sich in der NS-Zeit der leichten Muse verschrieben hatte.

34 – Kosmos Theater. Kosmos-Kino – Siebensterngasse 42-44.
In der NS-Zeit „arisiert“, nach dem Krieg von den Amerikanern zur politischen Umerziehung verwendet.

35 – Wiener Außenstelle der Reichsfilmkammer – Siebensterngasse 42-44.
Hier wurde, unter anderem, von 1938 bis 1945 über Karrieren in der NS-Filmindustrie entschieden.

36 – Siegfried als Drachentöter – Mondscheingasse 9.
Terracotta Relief an der Hausfassade von Ferdinand Opitz.

37 – Ruth Klüger – Lindengasse 38.
Shoah Überlebende und Bestsellerautorin.

Beitragsfoto: Martina Simon

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