Domenico Jacono – Vom besonderen Buch und längst vergessenen Geschichten

domenico jacono

Ich schreibe seit über einem Jahr für diesen Blog und kann guten Gewissens behaupten, dass mir die Westbahnstraße nicht gänzlich fremd ist. Dieser pulsierende Strang im Herzen Neubaus diente schon so oft als erste Station einer vielversprechenden Entdeckungsreise. Und doch entzog sich eine wissenswerte Begebenheit bisher erfolgreich meiner Kenntnis. Dort, wo sich die Westbahnstraße in die Neubaugasse ergießt, nur ein Stockwerk über dem emsig belaufenen Gehweg, verbirgt sich ein Ort des Mysteriums. Wo sich der Nachhall längst erzählter Geschichten  als beinahe physisch wahrnehmbare Kraft durch den Raum erstreckt, dort tagt Domenico Jacono, Bücherantiquar und Jäger des Vergessenen. Die Verehrung des geschriebenen Wortes machte den Literaten zum Sammler, der bald zur bitteren Einsicht kam, dass ein guter Händler nicht horten darf. Also beschloss er, das Vergnügen zur Profession zu machen und widmete sich der Suche nach all jenen Werken, deren Inhalt isoliert betrachtet nur einen Bruchteil ihrer Geschichte darstellt.

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Ein Werk muss durchdrungen werden, um es zu verstehen

Klassische Musik untermalt die lichtdurchflutete Szenerie, als ich den Raum betrete. Domenico bittet mich, auf einer ledernen Sitzgruppe Platz zu nehmen. Bücherregale an jeder Wand, nur die Fensterfront ist frei geblieben. Neben prächtig verzierten Werken mit goldenen Einbänden stehen weniger extravagante Exemplare, doch ihre Geschichte ist wohl nicht minder faszinierend. All diese Bücher wurden zuvor von Domenicos akribischem Auge „durchdrungen“, wie er es nennt. Denn die Sammelobjekte haben weit mehr zu berichten, als der erste Blick offenbart. Jedes Exemplar erzählt seine eigene Geschichte. Eine kaum leserliche Notiz am Textrand, persönliche Widmungen, getrocknetes Blumenwerk zwischen den Seiten. Domenico zeigt mir das Werbeprospekt einer Stadlauer Papageienfarm. Er kauft nicht nur literarische Werke, alles Gedruckte ist von Relevanz für ihn. Sein Jagdinstinkt treibt ihn quer durch Europa, viele Bücher stammen aus Bulgarien, Rumänien oder Ungarn, mancher Schatz verbirgt sich aber auch in einem nichtssagenden Karton am Naschmarkt.

Wie der erste Wiener Arbeiterfussballklub im Siebten entstand

Es ist kein Zufall, dass er im ersten Stockwerk des Gebäudes in der Neubaugasse Nummer 35 sein Lager aufgeschlagen hat. Domenico lebt mit seiner Familie im selben Haus, der siebte Bezirk ist ihm wohlbekannt. Zu seinen Studienzeiten in den 90ern arbeitete er als Billeteur für die „KIBA“, die Wiener Kinobetriebsanstalt. Seinen Lohn holte er sich allmonatlich in just demselben Raum ab, in dem er nun seine Entdeckungen lagert. Damals wurde die Wohnung als Büroraum genutzt. Domenico erzählt mir von einer ehemaligen Hutfabrik in der Schottenfeldgasse 32, mittlerweile steht ein Wohnhaus an selbiger Stelle. Englische Geschäftsleute leiteten die Fabrik in den 1890ern und frönten in ihren freien Stunden einem damals nicht allzu üblichen Vergnügen. Sie spielten Fußball. Von der Führungsebene tatkräftig unterstützt, verbreitete sich der Volkssport rasch in der übrigen Belegschaft. Gegen Ende des Werktages begab man sich voller Euphorie zur Schmelz und übte sich im Manövrieren des runden Leders. 1897 wurde aus dem Amateurtrupp der erste Wiener Arbeiterfussballklub, heutzutage besser bekannt als SK Rapid Wien. Domenico ist Kenner und Chronist des Vereins, er hat bereits mehrere Bücher über Mannschaft und Fangemeinde auf den Markt gebracht, war Chefkurator des alten Rapid Museums im Hanappi Stadium.

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Über das Leben und Sterben des gedruckten Wortes

Domenico glaubt nicht an das Ende des gedruckten Buches. Es war zu erwarten, dass wir früher oder später diese Thematik streifen und zugegebenermaßen habe ich die Sache letztendlich gezielt angesprochen. Sein Blickwinkel interessiert mich. Die Omnipräsenz des Druckwerks sei vorbei, das stehe außer Frage. Die Wissensvermittlung rücke zunehmend in den Online Bereich, das Alltägliche schwinde dahin. Domenico glaubt an den Wert des Besonderen, des Einzigartigen und dieser Wert ist messbar. Mit Hilfe umfassender Datenbanken lässt sich der Preisverlauf eines Buchs rekonstruieren. Viele seiner Kunden sind Sammler, manche suchen nach einer sicheren Geldanlage. Denn das besondere Buch wird nicht aussterben, es zieht sich lediglich zurück, löst sich von der Masse und offenbart, abgehoben vom bunten Pixelstrom des digitalen Zeitalters, seine wahre Pracht.

 

Fotos: Daniel Klingler

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