Kürzlich erreichte unsere im7ten-Redaktion eine Leserfrage, über die wir uns wie gewohnt freuten. Das Feedback – und Fragen sind auch eine Form von Feedback – das wir von Ihnen, liebe Leserinnen und Leser bekommen, ist stets interessant zu lesen und stellt uns gelegentlich vor spannende Herausforderungen. Nachdem ich dem Rätsel um die Firma Bartik so gerne und erfolgreich nachgegangen war, hatte ich große Lust, auch der nun gestellten Frage auf den Grund zu gehen.
[Anm.: Man muss sich unsere Redaktionssitzungen wie die Raubkatzenfütterung im Zoo vorstellen. Ein kleiner Knochen mit ein bisschen Fleisch dran wird in die Runde geworfen und schon schnappt einer von uns zu – das Gute ist, dass Daniel und ich offenbar auf sehr unterschiedliche Leckerbissen stehen.]
Die Fragestellung
In der Richtergasse Ecke Neubaugasse befindet sich ein Haus, an dessen Fassade eine Inschrift zu sehen ist:
Was hat es damit auf sich?
Die Startposition
Nun, erfahrungsgemäß sind die Aufzeichnungen über bedeutsame Häuser, Architekten und Persönlichkeiten, die Wien, seine Bezirke und Ortsteile prägten, meist recht unkompliziert auffindbar, wenn man weiß, welche Archive man zum betreffenden Thema anzapfen kann. Diesmal gestaltete sich die Recherche erheblich schwieriger. Die Brotkrumen waren doch recht dünn gesät.
Was wir wissen:
Die Richtergasse ist eine kleine Gasse am Neubau, die die Neubaugasse mit der Andreasgasse verbindet.
Das Haus, um das es in der uns gestellten Frage geht, ist ein Gebäude mit bemerkenswerter Fassade mit der Adresse Richtergasse 1. An der Ecke zur Neubaugasse befindet sich besagte Inschrift: „FRANZ STARK. GRASLITZER MECHANISCHE STICKEREIEN. SPITZEN. WEISSWAREN“. An der Mauer über dem Eingangstor finden wir noch zwei weitere Hinweise, denen nachgegangen werden kann: „ZUR GERECHTIGKEIT“ steht hoch oben an dem Hausschild, darüber ist noch der Errichtungszeitpunkt angebracht: „ERBAUT A-D-MCMVIII“. Erbaut AD 1908 (AD = Anno Domini, lat. für: „im Jahre des Herrn“).
Digging deeper
In dem Werk „Historisches Lexikon Wien“ von Felix Czeike finden wir folgenden Vermerk zur Richtergasse: „Richtergasse (7, Neubau), benannt (1862) wahrscheinlich nach dem Hausschild „Zur Gerechtigkeit“ (Nummer 1); vorher (ab der Anlage 1798) Herrengasse.“ (Quelle: Digitalausgabe von Czeike, Felix (1995): Historisches Lexikon Wien, Band 4, Le – Ro, Wien: Kremayr & Scheriau / Orac)
Weiters ist dort zum vormaligen Straßennamen nachzulesen: „Herrengasse (7), Bezeichnung mehrerer Vorstadtgassen, die 1862 in Bandgasse (Schottenfeld), Döblergasse (Spittelberg; seit 1907 Schrankgasse), Neustiftgasse (St. Ulrich) beziehungsweise Richtergasse (Neubau) umbenannt wurden; außerdem führte bis um 1800 die Halbgasse (Schottenfeld) den Namen Herrengasse.“ (siehe Quelle: Digitalausgabe von Czeike, Felix (1995): Historisches Lexikon Wien, Band 3, H – L, Wien: Kremayr & Scheriau / Orac)
Daraus können wir lesen, dass die Benennung der Richtergasse 1862 erfolgte: Felix Czeike geht die Benennung aller Wahrscheinlichkeit auf das Haus „zur Gerechtigkeit“ zurück, allerdings wurde dieses in der Form, wie es heute dort zu finden ist, erst 1908 erbaut. Möglich ist, dass das Vorgängerhaus den Beinamen „zur Gerechtigkeit“ trug. Einen Beleg dafür findet sich allerdings weder bei Historiker Felix Czeike noch in einem Buch aus dem Jahr 1795 mit dem knackigen Titel: „Wiener Schildregister, oder Anweisung, wie man sich auf der Stelle helfen kann, wenn man in Wien den Schild eines Hauses oder eines Kaufmannsgewölbes in und vor der Stadt suchen, und ihn finden will. Zum allgemeinen Nutzen, in kleinem Taschenformat herausgegeben“ (digital abrufbar: Wienbibliothek digital). Selbst die Suche nach einem Haus mit einem Ritter an der Fassade. Die Möglichkeit besteht, dass das Haus „zur Gerechtigkeit“ nach 1795 errichtet, benannt, dann aber abgerissen und 1908 neu erbaut und der Name weitergegeben wurde. Abgedeckt ist dieser Zeitraum allerdings durch die Daten des Architekturzentrums Wien, das im Architektenlexikon die Daten österreichischer und internationaler Architekturschaffenden zusammengetragen hat, „die in Wien mehrere Projekte oder zumindest ein öffentliches Monumentalgebäude realisieren konnten, sowie jene ArchitektInnen, die vorwiegend als LehrerInnen oder TheoretikerInnen wirksam waren.“
(Quelle: Architektenlexikon, Stand: 27.2.2018)
Aber die Recherche des Architekten erweist sich als nicht fruchtbar, weshalb ich zunächst einen Architekten in direkter Nähe zu dem Haus unter dem Motto „Architekten interessieren sich für schöne Häuser“ anrufe.
Ich lache innerlich noch über meinen Weitschuss – das Telefonat brachte nämlich kein Ergebnis – als ich mir den Grundbuchauszug des Hauses organisiere und daraufhin eine Hauseigentümerin in zweiter Generation kontaktiere. In einem sehr unterhaltsamen Telefonat stellt sich allerdings heraus, dass auch sie keine näheren Informationen zu dem Hausschild oder dem Architekten hat. Also wende ich mich an die zuständige Hausverwaltung und erhalte innerhalb von zehn Minuten nach einem kurzen Telefonat und der Schilderung von der Hausinschrift bzw. Frage nach dem Architekten die Antwort, dass es sich bei Franz Stark vermutlich um den Architekten des Hauses handelt. „Vermutlich“ ist mir aber – genauso wie der Vermerk „wahrscheinlich“ bei Felix Czeikes Lexikoneintrag einfach mal nicht genug. Zumal es im oben zitierten Architektenlexikon genau null Einträge mit dem Namen Stark gibt.
Das letzte Register
Natürlich könnte man sich eine Vollmacht von EigentümerInnen oder Hausverwaltung besorgen und kostenpflichtig ins Planarchiv der Baupolizei Einsicht nehmen, in der Hoffnung dort den Hinweis zum Architekten zu finden. Selbstverständlich könnte man sich auch eine Tageskarte für das Az W samt Bibliothekskarte kaufen und auf Spurensuche gehen. Zweifelsohne könnte man auch die Telefonnummern anderer Hauseigentümer ausfindig machen und sie zu Hause anrufen. Doch nicht alles, was man kann, ist deckungsgleich mit der im7ten-Kernkompetenz, weshalb auch ich mich beinahe zu einem Fazit unter dem Motto „Wahrscheinlichkeit“ hinreißen lasse.
Aber dann, als ich bereits drei Viertel dieses Artikels geschrieben habe, fällt mir ein, dass es auch das Handelsregister für den Zeitraum von 1859 – 1922 gibt. Exakt heißt es: „Adolph Lehmann’s allgemeiner Wohnungs-Anzeiger: nebst Handels- u. Gewerbe-Adressbuch für d. k.k. Reichshaupt- u. Residenzstadt Wien u. Umgebung. Wien 1859 – 1922“ und auch hier gibt es – der Digitalisierung sei Dank – eine Online-Ausgabe, durch die man sich via Klick blättern muss. Sehr urig! Keine Suchfunktion. Frakturschrift.
Und hier, ganz winzig klein, finde ich auf Seite 1368 (Adolph Lehmann’s allgemeiner Wohnungs-Anzeiger > 1891-1900 > 1900 > Band 1 > [Branchenverzeichnis] 4. Nachweis. Handels- und Gewerbe-Adreßbuch nach Geschäften und Gewerben geeordnet > Weißwaren – Wirthe) den Eintrag: Stark Franz, VII. Neubaugasse 9!
Etwa eine Stunde später weiß ich, dass die erste Eintragung im Jahr 1899 erfolgte. Blättert man sich Jahr für Jahr durch das Branchenverzeichnis, stellt man fest, dass die Einträge der Branche „Weißwaren“ Jahr um Jahr weniger werden. Das Gewerbe geht zurück. Den letzten Eintrag zu Franz Stark in der Neubaugasse 9 finde ich im Jahr 1914. Es ist das Jahr, in dem der Erste Weltkrieg beginnt, der schlussendlich auch das Ende der k. u. k. Doppelmonarchie besiegeln wird.
Fazit
Wir wissen, dass Franz Stark von 1899 bis 1914 in der Neubaugasse 9 bzw. Richtergasse 1 ein Weißwaren-Gewerbe führte. Wir können dank der Inschrift an der Hausmauer erahnen, dass es ein florierendes Geschäft war, er die Errichtung des Baus, der 1908 fertiggestellt wurde, beauftragte und sich mit der Inschrift selbst ein Denkmal setzte.
Eindeutige Hinweise auf den Architekten fanden sich nicht. Die Fassade mit Jugendstilelementen entspricht dem damaligen Architekturstil.
Die Sache mit Graslitz | Eine Mutmaßung
Die Tafel auf der Hausmauer bewirbt: „GRASLITZER MECHANISCHE STICKEREIEN“. Nun könnte es sein, dass damit lediglich auf eine Art von Stickerei, „nach Graslitzer-Art“, hingewiesen wurde oder auch – und da sind der im7ten-Leser, der uns die Frage gestellt hat, und ich uns einig –, dass Franz Stark eine tiefere Verbundenheit mit Graslitz – heute das tschechische Kraslice –hatte, das damals noch zur Österreichisch-Ungarischen Monarchie gehörte. Die Familie Starck (wohlgemerkt mit ck, aber Namensschreibweisen waren damals noch bei Weitem nicht so fest wie heute) betrieb in Graslitz eine der größten Baumwollgarnspinnereien und es liegt nicht fern, dass ein Star(c)k-Nachkomme sein wirtschaftliches Glück in der Hauptstadt der Donaumonarchie suchte.
Aber um das belegen zu können, müsste ich mich in die Nationalbibliothek der Tschechischen Republik begeben. Vielleicht mal bei Gelegenheit.