Neubau strahlt – und das nicht nur bei Tageslicht. Es gibt Ecken, Straßen und Plätze, die im Hellen oft unbeachtet bleiben. Wer sich jedoch Zeit nimmt und gemütlich durch die Straßen des 7. Bezirks flaniert, entdeckt nicht nur das Grätzl in einem neuen Licht, sondern vielleicht auch sich selbst auf eine ganz andere Weise. Die Gedanken fließen und das eigene Schritttempo wird spürbar. Nachts verändert sich vieles. Zu später Stunde ist der Bezirk wie das Yin zum Yang des Tages – beide Seiten ergänzen sich perfekt.
Heute ist auch für uns nichts mehr zu „erledigen“. Wir haben kein festes Ziel und lassen einfach alles auf uns zukommen, während wir durch die Gassen Neubaus schlendern.

Wo Architektur den Himmel berührt – Der Urban-Loritz-Platz und die Hauptbücherei
Kurz bevor Wien im goldenen Abendlicht versinkt, zieht es uns zum Urban-Loritz-Platz. Der Gürtel durchschneidet den Platz wie eine pulsierende Lebensader: auf der einen Seite ein grüner Park, auf der anderen ein überdachtes Verkehrsdrehkreuz, geschäftig und laut. Dazwischen ragt ein markanter Baukörper in die Höhe – die Hauptbücherei. Entworfen vom Architekten Ernst Mayr und im Jahr 2003 eröffnet, beeindruckt sie mit klaren Linien und zeitgenössischer Architektur. Eine 130 Meter lange Stahl-Glas-Membran überspannt den Übergang zum umgestalteten Urban-Loritz-Platz. Die Seiten des Bauwerks sind aus Schallschutzgründen eher zurückhaltend geöffnet. Besonders beliebt ist die breite Rampe mit ihren vielen Stufen, die den Eingang zur Bibliothek bildet – ein Treffpunkt für Menschen, die hier lesen, plaudern, beobachten oder einfach den Moment genießen. Wer sich bis ganz nach oben wagt, wird mit einem atemberaubenden Ausblick über die Dächer Wiens belohnt. Im obersten Stockwerk der Hauptbibliothek liegt das Oben – ein charmantes Café mit großzügiger Terrasse. Bei einem kühlen Getränk und einer kleinen Stärkung genießen wir den Moment der Ruhe, während unter uns der Verkehr vorbeirauscht. Ein kurzer Zwischenstopp – bevor unser abendlicher Streifzug durch Neubau beginnt.

Twen und das WestLicht – Eine Zeitreise durch die Linse
Es ist kurz vor acht Uhr, die Dämmerung hat bereits eingesetzt. Wir entscheiden uns dafür, die Westbahnstraße entlangzugehen und gelangen so zum WestLicht – Schauplatz für Fotografie, unser nächstes Ziel. Abends wirkt der Eingang fast geheimnisvoll, heute hat das Museum bis 21 Uhr geöffnet. Das Licht vor dem Eingang wirft einen strahlenden Kegel auf den schwarzen Kreis, der die weiße Aufschrift „WestLicht“ umgibt. Seit 2001 befindet sich in der Westbahnstraße 22 der „Schauplatz der Fotografie“, wie sich die Ausstellungsräume im Museum nennen. Neben der jährlich beliebten „World Press Photo“-Ausstellung findet man hier auch die Geschichte der Kamera seit 1839. Seit über zwei Jahrzehnten ist das WestLicht eine feste Größe in der österreichischen Fotoszene. Das Museum beherbergt ca. 40.000 Objekte und erzählt von der historischen Herstellung von Fotografien aller Epochen. Immer wieder zeigen wechselnde Ausstellungen, wie vielseitig Fotografie sein kann. Aktuell ist im WestLicht die Ausstellung „All Tomorrow’s Parties – Twen: Das Magazin der Sechziger Jahre“ zu sehen. Sie widmet sich dem revolutionären Design, der Fotografie und den gesellschaftskritischen Inhalten des legendären Magazins twen, das den Zeitgeist der 1960er-Jahre maßgeblich prägte.

Lesetipps zum Thema
Zwischenstopp: Lichterspiel und Schleckpause – der Blick in die Neubaugasse
Nach dem Besuch im WestLicht nehmen wir die Straßenbahnlinie 52 Richtung Ring/Volkstheater. Der kleine Hunger meldet sich – und was bekommt man in Neubau ab März auch spätabends fast immer? Richtig: Eis. An der Haltestelle Westbahnstraße/Neubaugasse steigen wir aus und steuern das nächste Eisgeschäft an. In der Neubaugasse ist es noch trubelig, obwohl bereits fast alle Geschäfte geschlossen haben. Die Straße ist das Herzstück des 7. Bezirks und wurde ab dem 18. Jahrhundert immer stärker bebaut – vorwiegend aus gründerzeitlichen und secessionistischen Mietshäusern. Bereits 1862 erhielt sie ihren offiziellen Namen und prägte das Stadtbild maßgeblich. Die Neubaugasse präsentiert sich heute in einem besonderen Licht – statt klassischer Leuchtreklamen schmücken beleuchtete Kugeln die Straßen, die wie funkelnde Sterne die Nacht erhellen. Diese moderne Dekoration fügt sich perfekt in das lebendige Bild der Straße ein. Abseits davon zieren Geschäftsschilder und nostalgische Schriftzüge immer noch die Fassaden. Mit einer Kugel Cheesecake-Marille und einer Kugel Mascarpone-Feige in einem Stanitzel spazieren wir Richtung Siebsternplatz.

Ein Platz mit Aussicht: Der Siebensternplatz
Wo genau das Zentrum des 7. Bezirks liegt, lässt sich schwer sagen, doch viele vermuten, dass es sich auf dem Siebensternplatz befindet. Dieser liegt auf einer Erhöhung und die benachbarte Siebensterngasse wurde 1862 nach dem ehemaligen Hausschild „Zu den sieben Sternen“ benannt. Eine Erzählung besagt, dass von hier aus die sieben größten Sterne sichtbar waren. Der Platz ist besonders lebendig, vor allem an lauen Abenden, dank des vegetarischen Restaurants Schwein und des Cafés 7Stern.
25 Jahre Kosmos-Theater: Bühne für weibliche Perspektiven
Anstatt den Blick zu den Sternen zu richten, wenden wir uns der gegenüberliegenden Straßenseite zu. Dort, hinter den Lichtern des Platzes, öffnet sich ein eigener Kosmos – das Kosmos-Theater, ein Ort, der seit Jahren für neue Perspektiven sorgt. Von 1914 bis 1998 als Kosmos-Kino bekannt, wurde es 2000 als Kosmos-Frauenraum eröffnet und schließlich 2002 in Kosmos-Theater umbenannt. Das Theater fördert weibliche Perspektiven und setzt auf zeitgenössische Dramatik, wobei es besonders auf Erst- und Uraufführungen sowie die enge Zusammenarbeit mit freien Kollektiven Wert legt. Mit Produktionen wie „Muttersprache Mameloschn“ und „NAME HER. Eine Suche nach den Frauen+“ hat sich das Theater einen renommierten Ruf erarbeitet und wurde mehrfach ausgezeichnet. In diesem Jahr feiert das Kosmos-Theater sein 25-jähriges Bestehen mit der Jubiläumssaison „Von Trauer, Wut und Widerständigkeit“. Das Programm bietet eine Vielzahl an Eigenproduktionen, acht Uraufführungen und eine österreichische Erstaufführung. Die Stücke setzen sich mit gesellschaftlichen und ökologischen Themen auseinandersetzen.

Der Adlerhof: Ein stiller Rückzugsort im pulsierenden Siebensternviertel
Versteckt im Herzen des lebendigen Siebensternviertels verbirgt sich ein Ort, der leicht übersehen wird und gerade deshalb so reizvoll ist: der Adlerhof. Dieses Wiener Durchhaus verbindet die Siebensterngasse 46 mit der Burggasse 51 und erlaubt es, das Grätzl auf ruhigem Wege zu durchqueren. Wir zögern nicht und schauen uns das genauer an. Wer hier entlanggeht, taucht ein in die Atmosphäre eines Wiens, das längst vergangen scheint – und bleibt oft einen Moment länger stehen. Der Adlerhof wurde 1874 für einkommensschwächere Bürger*innen errichtet und beeindruckt mit seiner besonderen Struktur: fünf angelegte Innenhöfe, die durch zehn Stiegen miteinander verbunden sind. Der Durchgang verläuft bergab und in zwei Höfen gibt es mehrere Stufen. Umschlossen wird der Wohnkomplex von Gebäuden im Stil des Neoklassizismus, des Biedermeier und der Gründerzeit. Besonders charmant zeigen sich die Durchgänge des Adlerhofs, gegliedert durch Pilaster und Arkaden, die dem Gebäude seinen unverwechselbaren Charakter verleihen. Am Ende des Durchgangs lockt das 2020 eröffnete Saloncafé Adlerhof mit gutem Frühstück und modernem Flair. Wir treten durch den letzten Torbogen und befinden uns auf der Burggasse.

Ein Glas Wein unter alten Reben – das Amerlingsbeisl am Spittelberg
Wir schlendern die Burggasse hinunter in Richtung Volkstheater und biegen zum Spittelberg ab – Zeit für eine kleine Verschnaufpause. In der Stiftgasse 8 liegt das Amerlingsbeisl, eingebettet im historischen Amerlinghaus, das um 1700 erbaut wurde. Hier wurde der Biedermeier-Maler Friedrich von Amerling als eines von 16 Kindern geboren – am 14. April 1803, im Haus „Zu den drei Herzen“. Im idyllischen Innenhof, umgeben von Pawlatschen, einem kleinen Brunnen und einem rund 200 Jahre alten Weinstock, lässt es sich wunderbar entspannen. Besonders abends, wenn das Licht sanft durch die Weinblätter fällt, entfaltet dieser Ort seinen ganz besonderen Zauber – perfekt für ein gutes Glaserl Wein. Hier lassen wir die Eindrücke unseres nächtlichen Spaziergangs in Gedanken noch einmal aufleben.

Passende Lesetipps
Klein, aber oho: Das Haus mit der Taschenuhr
Unsere Entdeckungstour setzt sich in Richtung Volkstheater fort und führt uns zur letzten Station: dem kleinsten Haus Wiens. An der Ecke Burggasse/Breite Gasse, direkt hinter dem MuseumsQuartier, erwartet uns dieses bemerkenswerte Kuriosum. Zwischen zwei stattlichen Gebäuden eingezwängt, misst es gerade einmal etwas über zwei Meter in der Breite und ist heute ein beliebter Fotospot. Erbaut wurde das Haus, mit einer Grundfläche von nur 14 Quadratmetern und zwei Stockwerken, 1872 vom Architekten Josef Durst im klassizistischen Stil. Ursprünglich trug es Namen wie „Zur grünen Weintraube“ und „Zum goldenen Lamm“, bevor es den heutigen Namen „Zum goldenen Hirschen“ erhielt. Die Firma Matthias Meindl & Sohn war hier beheimatet, bevor 1972 der junge Uhrmachermeister Friedrich Schmollgruber den Standort im kleinsten Haus Wiens übernahm. Nach über 40 Jahren, zählt die Firma Schmollgruber heute zu den bekanntesten Uhrmachergeschäften Wiens und wird nun von der nächsten Generation der Familie geführt. Besonders hervorstechend ist die grüne Neorenaissance-Fassade und die übergroße Taschenuhr. Die Fenster des Hauses werden im Erd- und Obergeschoss von schlanken Pfeilern mit kunstvollen Kapitellen im korinthischen Stil eingerahmt. Ein waagerechtes Gesims zieht sich zwischen den Stockwerken entlang und trennt die Fassade optisch. Über den drei Fenstern im oberen Geschoss liegt ein schlichtes Gebälk, das durch zierliche Balustraden ergänzt wird. Den krönenden Abschluss bildet ein fein abgestuftes Gesims, das sich über einem dekorativen Fries erhebt. Natürlich machen wir ein Erinnerungsfoto, wenn wir schon einmal hier sind.

Fazit: Neubau bei Nacht
Was bleibt nach einem nächtlichen Streifzug durch Neubau? Es sind nicht die bekannten Sehenswürdigkeiten, die sich ins Gedächtnis schleichen. Vielmehr sind es die feinen Nuancen, das Spiel aus Licht und Schatten, die Stille und die Präsenz der Menschen, die in der Nacht ihre eigenen Geschichten schreiben sowie die beeindruckende Architektur, die sich in den engen Gassen offenbart. Der 7. Bezirk verwandelt sich nachts nicht nur in einen außergewöhnlichen Ort, sondern in ein spürbares Gefühl, das die Elemente Gemeinschaft, Kreativität, Urbanität und Vielfalt in sich vereint.
Quellen und weiterführende Lesetipps
- Geschichte Wiki Wien: Adlerhof, Stand: 22.04.2025
- Geschichte Wiki Wien: Amerlinghaus, Stand: 24.04.2025
- Geschichte Wiki Wien: Hauptbücherei, Stand: 23.04.2025
- Geschichte Wiki Wien: Kosmos Theater, Stand: 24.042025
- Geschichte Wiki Wien: Neubaugasse, Stand: 23.04.2025
- Geschichte Wiki Wien: Siebensterngasse, Stand: 22.04.2025
- Leitner, Tarek/Coeln, Peter/Weinhäupl, Peter (Hg.): Im Siebten. Die Neuerfindung der Stadt in Wien-Neubau, Wien: Brandstätter Verlag 2024.
- ORF: „Kosmos Theater feiert Jubiläum“, online verfügbar unter: https://wien.orf.at/stories/3296856/, Stand: 21.04.2025
- Pauer, Florian/Jelinek, Thomas (Hg.): Die Wiener Kinos. Dokumentation 1896-2022. Band 2: Kinos der Bezirke IV-IX, Wien: verlag filmarchiv austria 2022.
- Planet Vienna: Das kleinste Haus von Wien, Stand: 21.04.2025
- Tamchina, Herbert: Am Neubau. Ein geschichtlicher und kultureller Rundgang durch den 7. Wiener Bezirk, Wien: Buchschmiede von Dataform Media GmbH 2024.
- Wikipedia: WestLicht, Stand: 21.04.2025
Text und Fotos: Verena Lukanz