Die Buchhandlung Hintermayer wird seit 1962 von der gleichnamigen Familie geführt. Es war Wiens erste Buchhandlung, die sich auf den Verkauf stark preisreduzierter Bücher spezialisiert und sich damit einen Namen gemacht hat. Doch die Geschichte der Buchhandlung in der Neubaugasse 29 lässt sich sogar noch viel weiter zurückverfolgen – bis ins Jahr 1870.
Prolog
Kurt Hintermayer begrüßt mich, als ich das Geschäft in der Neubaugasse 29 betrete, in dem sich ein Buchrücken an den anderen reiht – eine Farbexplosion, ein Hort des Wissens, ein Refugium für menschliche Bücherwürmer und Leseratten. „Zum Interview? Dann wartet bestimmt mein Bruder auf Sie“, stellt der Buchhändler fest und führt mich durch einen Seitenausgang in den Hof, wo er die Lagertüre öffnet, hinter der Karl Hintermayer in einem hohen Raum mit Regalen, die fast bis zum Plafond gehen, gerade die georderten Bücher aus den Onlinebestellungen in feinsäuberlichen Stapeln sortiert. Es riecht nach Laminiergerät, es duftet nach neuen Buchseiten, es sieht nach liebevoller Handarbeit aus, mit der die Brüder Hintermayer die bekannte Buchhandlung führen.

Hintermayer, wie Wiener:innen ihn kennen
Neben dem klassischen Buchhandel widmet sich die Buchhandlung Hintermayer den Spezialgebieten Kunst, Geschichte und Austriaca. Das Programm umfasst rund 30.000 Artikel. Ganz besondere Glückseligkeit erwartet alle, die Sachbücher, Bildbände und Kunstbücher zu günstigen Preisen suchen. Denn Hintermayer war das erste Buchgeschäft Wiens, das sich auf den Verkauf stark preisreduzierter Bücher spezialisiert und sich mit diesem USP aus der Branche hervorgehoben hat: „Nach zwei Jahren ist die Buchpreisbindung aufgelockert und dann bestimmen wir den neuen Preis. So können Kundinnen und Kunden zu dem Vorteil kommen, dass sie sehr interessante Bücher – weil die ja nicht schlecht werden – zu sehr günstigen Preisen bekommen können“, erklärt Karl Hintermayer. „Wir waren die ersten und haben das lange Zeit solo gemacht. Mittlerweile gibt es ein paar, die das auch machen, aber eher nebenbei, während es bei uns ein Hauptzweck ist“, fährt er fort. Er nickt dabei sanft und das Schmunzeln, das sich von seinen Wangen bis zu den Augen abzeichnet, strahlt die Gelassenheit eines Unternehmers aus, der weiß, dass er vor vielen Jahren aufs richtige Pferd gesetzt hat.

Neubaugasse 29 – seit 1870 ein Ort für Bücher
Wie jede gute Geschichte hat auch diese eine spannende Vorgeschichte, denn die Neubaugasse 29 blickt auf eine lange Tradition in der Buchhandelsbranche zurück, wie sich beim Stöbern im Zeitschriftenarchiv der Österreichischen Nationalbibliothek herausstellt.
Von Carl Daberkow bis Bruno Thiel
Bereits 1870 hatte ein gewisser Carl Daberkow, später sein Sohn Theodor, hier ein Buchgeschäft. Die Familie Daberkow betrieb neben dem Buchhandel auch einen Verlag, der sich in der Mariahilfer Straße 12-16 befand. Einen Teil des Geschäfts verkaufte Daberkow 1893 an Bruno Thiel, der im Zeitschriftenarchiv immer wieder mit – in Retrospektive witzigen – Zeitungsmeldungen vertreten war. In der Oesterreichischen Buchhändler-Correspondenz vom 12. April 1899 warnte er seine Kollegen vor einem „Büchermarder“, der ihm zwei Bücher entwendet hatte, weshalb er um Hilfe bat, den Gauner festzuhalten und der Behörde zu überantworten – was übrigens auch gelang. Der spannende Bogen von Bruno Thiel zur Familie Hintermayer: Auch er interessierte sich für Literatur zum Thema Kunstgewerbe und Bücher mit Preisherabsetzungen, ferner Anitquarkatalogen, wie er in der Zeitungsmeldung anlässlich seiner Firmenübernahme verlautbaren ließ.
Die Mutter aller Frauenmagazine
Den Teil des Geschäfts, den die Familie Daberkow behalten hatte, führte sie übrigens erfolgreich weiter. So ist im „Novitäten-Anzeiger für den Colportage Buchhandel“ in der Ausgabe vom 1. Februar 1904 zu lesen, dass der Daberkow’sche Buchhandlung den Kommissionsvertrag für die Deutsche Frauenzeitung übernommen hat und selbige seit 1. Jänner 1904 auf dem Gebiet Österreich-Ungarn, Bosnien und Herzegowina ausliefert: „Ein in Österreich-Ungarn ganz neues Unternehmen von gediegenem Inhalt und eleganter Ausstattung bietet den Kolportagebetreibenden ein lohnendes Absatzgebiet. (…) Das soeben erschienene 1. Heft à 20 h [Anm.: Heller] ord. liegt uns vor und wir konstatieren mit Befriedigung, daß uns bei dem billigen Preis noch kein so reichhaltiges Blatt zu Hande gekommen ist, welches nebst den neuesten Moden das gesamte Gebiet des Hauswesens, Aufsätze über Kindererziehung, gesellschaftliche Pflichten, Gesundheitspflege, Hauswirtschaft ec überhaupt einen Ratgeber für die Praxis im Hof und Garten enthält.“
Hintermayer-Vorgänger Karl Reck übernimmt die Buchhandlung
Theodor Daberkow verlagerte sein Wirken immer mehr in die Kommunalpolitik, war als Obmann des Vereins der Hausbesitzer im 7. Bezirk (1910) aktiv und muss die zu dem Zeitpunkt schon vier Jahrzehnte bestehende Buchhandlung in der Neubaugasse 29 im ersten Viertel des 20. Jahrhunderts an Karl Reck übergeben haben, der am 13. August 1926 im „Anzeiger für den Buch-, Kunst- und Musikalienhandel“ als Inhaber der „Buch-, Kunst- und Musikalienhandlung Karl Reck, Wien, VII., Neubaugasse 29“ genannt wird. Anlass war seine Vermählung mit dem Fräulein Josefa Matys. Schon drei Jahre davor annonciert er in der Zeitschrift „Die Filmwelt“ unter dem Titel „einzige Wiener Spezialbuchhandlung für Filmliteratur“ – die Pionierrolle stand den Geschäftsleuten in der Neubaugasse 29.
Widerstand
Im Herbst 1934 wurde Buchhändler Karl Reck wegen Führung sozialistischer Werke acht Tage ins Gefängnis gesperrt – die Rede ist von Werken von Karl Marx, Friedrich Engls, Viktor Adler, Ferdinand Lassalle u. Ä. – und kam im Jahr darauf wieder in die Bredouille, als einer seiner Mitarbeiter „verbotene politische Schriften“ im Keller des Chefs verwahrte (hier nachzulesen). 1941 wurde Karl Reck wegen An- und Verkaufs verbotenen Schriftentums festgenommen, ein halbes Jahr später wegen „Verbrechens gegen die Kriegswirtschaftsverordnung“ 18 Monaten Gefängnis verurteilt (mehr dazu).
Bücher über Antisemitismus und aus dem Bereich Zeitgeschichte sind auch heute wichtige Sachgebiete der Buchhandlung Hintermayer, der es ein Anliegen ist, zur Aufarbeitung der österreichischen Geschichte beizutragen.
Karl Reck übergibt die Buchhandlung – die Geburtsstunde der Buchhandlung Hintermayer
Im Oktober 1962 übernahm Karl Hintermayer (sen.) die Buchhandlung in der Neubaugasse 29, in der er davor als Angestellter gearbeitet hatte. Als „typischen Familienbetrieb“ bezeichnet Karl Hintermayer (jun.) das Geschäft. „Es hat sich so ergeben. Dadurch, dass der Vater das Geschäft übernommen hat, war in der Anfangseuphorie gar keine Frage, ob ich auch in die Buchhandlung komme, aber es hat mir immer Spaß gemacht“, beschreibt er den natürlichen Lauf der Dinge, die dazu führten, dass er seit 55 Jahren tagtäglich der Leidenschaft für das geschriebene Wort nachgeht. Fünf Jahre nach Karl trat auch sein Bruder Kurt Hintermayer ins Geschäft des Vaters ein. Über die Jahre wurden sie auch von ihren beiden Schwestern und der Mutter unterstützt – ja, ein „typischer Familienbetrieb“ eben.

Buchhandlung Hintermayer in zweiter Generation
Heute führen Karl (jun.) und Kurt Hintermayer und seine Frau Alexandra die Buchhandlung, die man schon von weitem am Logo erkennt, das in Rot und Weiß die Aufmerksamkeit der lesehungrigen Neubaugassen-Besucher:innen auf sich zieht.
An der Fassade oberhalb des Eingangs hängt noch der alte Schriftzug „Bücher“ in einem Stil, der zu einer bewegten Zeitreise einlädt – in die Tage von Carl und später Theodor Daberkow, Bruno Thiel und Karl Reck, zu denen sich in irgendeiner Form immer ein verbindendender Geschichtsstrang mit den Hintermayers binden lässt. Die Leidenschaft für Kunst und Musik, die Vorreiterrolle, die Rolle als Vereinsobmann – all das findet sich auch in der jüngeren Geschichte der Hintermayers wieder.

Aktiv fürs Grätzl
Dreizehn Jahre war Karl Hintermayer federführend im Verein der Kaufleute der IG Neubaugasse tätig. Den 7. Bezirk kennt er wie seine Westentasche: „Es ist eine Stadt in der Stadt, in der es alles gibt. Viel Kultur immer schon, das grüne Nest von Wien – der erste grüne Bezirksvorsteher von Wien … Es ist ein Standort, wo inzwischen viele junge Leute zu Hause sind, viele Studenten, sehr viele Künstler, sehr viele Queere. Es ist alles da und ich freue mich sehr, dass die Neubaugasse sich so gut entwickelt hat.“
Der Umbau der Neubaugasse zur verkehrsberuhigten Begegnungszone, der zweimal jährlich stattfindende Flaniermarkt, der seit 1983 das Grätzl belebt – von all diesen Gelegenheiten, mit Kund:innen in Kommunikation zu kommen, zeigt sich Karl Hintermayer begeistert.

Flexibilität und Anpassung
Er ist ein Unternehmer, der am Ball bleibt. Auf Facebook gibt er regelmäßig Buchtipps ins Videoform zum Besten. Der Versandservice von Büchern, die online bestellt werden, hat sich seit Corona mehr als verdoppelt und die Hintermayers sind flexibel mit dieser Veränderung mitgegangen. Auch die Notwendigkeit, potenzielle Kund:innen heute vielmehr online abzuholen und zu unterhalten, sieht er pragmatisch: „Es ist ein gewisser Kontakt, der damit erhalten bleibt.“ Ob das für ein kleines Wiener Familienunternehmen schwierig zu schaukeln ist? „Es macht uns Spaß und wir machen es gerne.“
Was macht für Sie ein gutes Buch aus?
Am Ende unseres Gespräches stelle ich ihm noch eine im7ten-Leser:innen-Frage: „Was macht für Sie ein gutes Buch aus?“ Seiner Antwort schickt er ein entschuldigendes „Da muss ich ein bisserl ausholen“ voraus und verrät dann: „Es gibt ein Buchhändlerleiden – ich kann ja nicht alle Bücher lesen und lese immer quer. Das heißt, ich fange in der Mitte an und wenn es mich auf diese Weise packt, dann ist es für mich ein gutes Buch. Natürlich gibt es auch die Kriterien welcher Autor, welcher Verlag, welche Zielgruppe wird angesprochen. Aber ganz konkret und persönlich interessiere ich mich in erster Linie für historische Werke und Kunstbücher. Im Sommer lese ich auch gerne einen Krimi oder neue Belletristik, aber die Beratung in dem Bereich macht in erster Linie meine Schwägerin.“
Was die Hintermayers noch vor haben, ist kurz gesagt: „Das Buch liegt uns am Herzen und wir wollen natürlich, dass es das Buch auch in zwanzig, dreißig oder fünfzig Jahren noch gibt. Es ist nicht leichter geworden. Das ist das Thema, das uns bewegt. Und die Neubaugasse als zweites.“
Hintermayer OHG
Neubaugasse 29, 1070 Wien
www.hintermayer.at
Für Buchtipps lohnt es sich, der Facebook-Seite der Buchhandlung Hintermayer zu folgen und immer wieder vorbeizuschauen.
Quellenangaben
ANNO/Österreichische Nationalbibliothek: Arbeiter-Zeitung: Schuschnigg lässt nicht Bücher verbrennen. Er lässt sie nur einstampfen. Ausgabe: 29. September 1934 (zuletzt aufgerufen am 19.07.2022)
ANNO/Österreichische Nationalbibliothek: Die Filmwelt. Jahrgang 1923, Nr. 28 (zuletzt aufgerufen am 19.07.2022)
ANNO/Österreichische Nationalbibliothek: Novitäten-Anzeiger für den Kolportage-Buchhandel. Ausgabe: 1. Februar 1904 (zuletzt aufgerufen am 19.07.2022)
ANNO/Österreichische Nationalbibliothek: Oesterreichische Buchhändler-Correspondenz. Ausgabe: 2. September 1893 (zuletzt aufgerufen am 20.07.2022)
ANNO/Österreichische Nationalbibliothek: Oesterreichische Buchhändler-Correspondenz. Ausgabe: 12. April 1899 (zuletzt aufgerufen am 19.07.2022)
ANNO/Österreichische Nationalbibliothek: Oesterreichische Buchhändler-Correspondenz. Ausgabe: 13. August 1926 (zuletzt aufgerufen am 19.07.2022)
ANNO/Österreichische Nationalbibliothek: Oesterreichische Buchhändler-Correspondenz. Ausgabe: 29. Juni 1935 (zuletzt aufgerufen am 19.07.2022)
Don Juan Archiv Wien: Reck (zuletzt aufgerufen am 19.07.2022)
Geschichte Wiki Wien: Theodor Daberkow (zuletzt aufgerufen am 19.07.2022)
© Text und Fotos: Veronika Fischer